Tryptichon mit Epilogen

Taxi I

Ihr bleibt das Herz stehen, als sie ihn am Straßenrand stehen sieht. Es regnet, er unter seinem Schirm, dunkler Mantel, Schal, ausgehfertig, mit hektischem Blick den Verkehr absuchend. Ihre Hände reagieren schneller als ihrem Verstand lieb ist. Blinker rechts, Lücke gefunden, genau vor ihm angehalten, rechte Tür auf: Wohin? 

Sein irritierter Blick, fragend, staunend, aus der Bahn geworfen, sie ergänzt: 

Wo möchtest Du hin, ich kann Dich fahren. 

Ich habe ein Taxi bestellt und… fängt er an, schüttelt dann den Kopf, klappt den Schirm zu, steigt ein. Schaut sie groß an. 

Wohin, fragt sie noch mal und er sagt: Philharmonie. 

Klar, sagt sie, Blinker, Lücke finden, links raus. 

Es ist viel Verkehr, die Sicht ist schlecht und mit großer Konzentration überspielt sie ihre Aufregung. Was hatte sie sich dabei gedacht, sie hätte einfach vorbeifahren können, er hätte sie nicht mal gesehen… zu spät. Das Wiedersehen hatte sie sich eigentlich anders vorgestellt, doch wann hatten ihre Pläne je funktioniert. 

Ich weiß jetzt gar nicht, was ich sagen soll… sagt er und sie hört die Verunsicherung aus der Stimme. Sein Schirm tropft, er versucht, nicht zu sehr davon nass zu werden, sie atmet seine Nähe, spürt ihr Herzklopfen, bremst scharf, als jemand vor ihr abrupt die Spur wechselt. 

Sorry, sagt sie, und: Du musst gar nichts sagen. 

Wieso hast Du angehalten, fragt er. 

Gute Frage, denkt sie und ärgert sich über die vielen Autos, die sich in Zeitlupe über die Kreuzung schieben. Statt zu antworten fragt sie:

Wann ist das Konzert? 

In 20 Minuten. 

Oh, das ist knapp. 

Ein kurzer Dialog, nur ein paar Worte, doch die Vertrautheit stellt sich sofort ein. Wie sehr sie ihn vermisst hatte… aber der aufsteigende Kloß im Hals hat keine Chance, ein Radfahrer rechts, die Spur ist eng. Ihr kommt eine Idee: 

Ich fahre hier ab und durch’s Viertel, ist Dir das recht? 

Ja, sagt er, natürlich! Warum machst Du das? 

Ich konnte Dich nicht im Regen stehen lassen, sagt sie und lacht kurz auf, als ihr die Doppeldeutigkeit auffällt. 

Er seufzt. 

Es tut mir so leid, sagt er, und ich schäme mich. Und es fühlt sich alles falsch an. Dich zu sehen, fühlte sich falsch an, Dich nicht zu sehen, fühlt sich ebenso falsch an – was soll ich denn machen…? 

Eine rhetorische Frage, denkt sie, während sie das Auto durch die Nebenstraßen schlängelt. Der Scheibenwischer tut, was er kann, sie guckt links, fährt an, Stop! ruft er und sie latscht auf die Bremse. Hund mit älterer Dame von rechts, das war knapp. 

Wenn sich alles, alles falsch anfühlt, sagt sie, während die Dame ohne einen Blick langsam von ihrem Hund über die Straße gezogen wird, dann hast Du Dich nicht entschieden. Nicht wirklich entschieden. 

Ohne ihn anzusehen fährt sie wieder an, kriegt noch die nächste Ampel, biegt ab auf die nächste größere Straße, beschleunigt. Auch hier viel Verkehr. 

Das wird knapp mit der Zeit, sagt sie. 

Er schnauft, wischt sich über das Gesicht, sagt, ja. Ja, ich bin feige… 

Sie kennt diese Selbstbezichtigungen. Mag sie nicht. Mochte sie nie. Sie helfen nicht weiter. Entscheiden heißt auch, von etwas scheiden, auf etwas verzichten, denkt sie und sagt: 

Aus meiner Sicht hast Du Dich genug entschieden. Ein halbes Ja ist ein Nein. Zu welchem Eingang willst Du? 

Was? fragt er, äh, hinten, der hintere Eingang, Kammermusiksaal. 

Sie macht Autoballett, findet eine Lücke, wechselt die Spur, tanzt um eine riesengroße Pfütze und die nächste Ampel ist wieder grün. 

Er atmet schwer und sagt: Ich habe mich nicht entschieden, Du hast recht. Es ist kein halbes Ja für Dich und es ist kein ganzes Nein gegen meine Familie. Ich kann das nicht. 

Sollst Du auch nicht, sagt sie. Niemals sollst Du Dich gegen Deine Familie entscheiden. Die Frage war nur, was Du eigentlich von mir willst. Und ob Du dazu stehen kannst.

Wieder seufzt er schwer. Sie hatte ihn nicht beschämen wollen, auch das kennt sie gut, auch das führt zu nichts. 

Hör zu, sagt sie abbremsend, es ist ganz einfach. Ich will Dich. Immer noch. Egal, was passiert ist. Wahrscheinlich habe ich deshalb vorhin angehalten, ich weiß es nicht, meine Hände haben es ohne mein Wissen entschieden und ich bin froh darüber. 

Sie hält das Auto an und sagt leiser während sie den Scheibenwischern zuschaut: Ich war immer letztlich froh über das, was meine Hände entschieden haben, denn dann war ich sicher, dass es stimmte. Auch wenn es mir irgendwie nicht in den Kram passte. 

Dann sieht sie ihn groß und offen an und sagt: Wir sind da, Du musst aussteigen, es klingelt schon. 

Er sieht auf den Schirm in seinen Händen, seufzt. Löst den Gurt, schaut sie an. Und in einem gleichzeitigen Impuls finden sich Augen und Hände und sie küssen sich. Wie immer, wie neu, und nichts fühlt sich falsch an. 

Du musst los, sagt sie. Was gibt es überhaupt?

Beethoven, Barenboim, sagt er und windet sich aus dem Auto. Beugt sich zurück, nimmt seinen Rucksack und sagt: Danke. Für alles. Ich melde mich.

Und stürzt los durch den Regen in Richtung Eingang. 

Sie schluckt schwer, sammelt sich, atmet die Aufregung weg, doch sein Geruch hängt im Auto und sie spürt seine Anwesenheit noch an den Händen, auf den Lippen. Mit zittrigen Fingern fädelt sie sich in den Verkehr ein. Was war das gerade? Ein Rückfall. Sie hatte gedacht, es wäre vorbei, doch es ist alles, wie es immer war. Sie wird eine unruhige Nacht haben denkt sie, während sie sich eine Träne abwischt. Und es wird Freundinnen geben, die ihr die Ohren langziehen werden, wenn sie erzählt, was gerade passiert ist. 

Passiert? Es ist nicht passiert – sie hat es gewollt. Ja, sie hat es gewollt. Deshalb ist es passiert. 

Taxi II

Als sie ihn in das kleine Auto steigen sieht, bleibt sie am Fenster stehen und wundert sich. Macht kurz die verregnete Scheibe dafür verantwortlich, dass sie nicht klar sieht. Hatte er nicht ein Taxi gerufen? Das Auto fährt los, kurz wird die Fahrerin von einem vorbeifahrenden Auto beleuchtet und dann bleibt ihr das Herz stehen. Von wegen Taxi! Ihr wird kalt. Eiskalt.

Jetzt weiß sie, wen er da wirklich angerufen hat! 

Ach natürlich, er hat vom Handy aus telefoniert, ist ja klar. Sie soll es nicht wissen. Ihr wird glühend heiß. Wer weiß, was sie noch alles nicht weiß!? Wie lange geht das schon wieder so? Hatte er nicht versprochen, sie nicht mehr zu sehen, hoch und heilig? 

Hatte sie ihm geglaubt… kaum. Er hat so getan, als wäre nichts, sie hat so getan, als wüßte sie von nichts. Dabei wußte sie es, hatte es gelesen, schwarz auf weiß in seinen eigenen Worten! Ja, es war nicht korrekt gewesen, sein Handy zu nehmen – doch was sollte sie denn machen? Er hätte doch alles abgestritten, was sie die ganze Zeit schon spürte. Er war nicht mehr da. Lief als gut funktionierende Hülle herum, doch er war abwesend. Und sie brauchte Beweise, etwas konkretes, auf das sie ihn ansprechen konnte, ihn überführen, ihn… und was hatte es gebracht? Das ganze Geschrei und Gezergel, ihre Ohnmacht, ihre Wut, irgendwie lief alles ins Leere. 

Jetzt war es so weit, mit eigenen Augen hatte sie es gesehen, mehr Beweise brauchte sie nicht. Und sie würde jetzt nicht mehr reden. Die vielen Worte, nichts hatten sie gebracht. Aneinander vorbei geredet, in schönen Formulierungen Bösartigkeiten ausgetauscht. Schon während sie noch stritten war ihr klar, dass es nur ein Spiel auf Zeit war. Doch was bildete er sich eigentlich ein… sie war nicht dumm und ließ sich nicht länger hinters Licht führen. Wie lange er sie schon belügt, wie lange sie es mitmacht – und warum eigentlich? Wegen der Kinder? Sicher. Wegen der Freunde, der Gesellschaft, der Blicke, der üblen Nachrede, der unabsehbaren Konsequenzen. 

Sie zittert vor Wut und auch vor Angst. Doch Angst darf es nicht geben, jetzt muss sie klar sein und handeln. Sie löst sich vom Fenster, dreht sich langsam um im Raum und hat das Gefühl, lange weg gewesen zu sein. Wie lange haben sie hier gewohnt? Wie fremd steuert sie durch die Sessel, die sie selbst ausgesucht hat und die wie zufällig arrangiert aussehen, was sie keineswegs sind. 

Das Blut pocht ihr in den Ohren, als sie den großen Koffer aus dem Schapp unter der Treppe herauszerrt. 

Willst Du verreisen? fragt ihr Jüngster, der auf dem Weg in die Küche ist.

Lass mich mal, sagt sie geistesabwesend und er verschwindet schulterzuckend.

Bevor sie sich vor den Schrank stellt, macht sie sorgfältig, nicht zu laut und nicht zu leise, die Schlafzimmertür zu. Atmet durch. Ballt kurz die Fäuste. 

Soll sie nicht doch erstmal Tanja anrufen? Die Lage besprechen, eine zweite Meinung hören… doch sie weiß, was die Freundin sagen wird. Pack Deine Sachen und komm sofort her, wird sie sagen. Und sie wird unflätige Schimpfworte für den Mann finden, mit dem sie jetzt über zwanzig Jahre zusammen lebt, und sie wird jedes dieser Schimpfworte begründen können, Worte, die sie selbst niemals über jemanden sagen würde. Doch es würde gut tun, sie zu hören, dazu nicken zu können und ein weiteres Glas Wein zu leeren. Das alles hatte es schon gegeben. Genau genommen sogar schon mehrfach. Wieso ist sie immer wieder zurückgekehrt? Wieso hatte sie ihm immer wieder geglaubt? Weil sie es wollte. Sie wollte ihm glauben, sie wollte die Familie zusammenhalten, und sie wollte nicht die sein, die verlassen wird, auf keinen Fall wollte sie die sein. Was für eine Erniedrigung! 

Und jetzt saß er mit dieser… im Auto, fuhr angeblich ins Konzert, dienstlich, hatte vorher noch eine Welle gemacht, wie wenig Lust er darauf hätte und wie viel lieber er zuhause geblieben wäre… was für ein… Tanja hätte jetzt „Arsch!“ gesagt. 

Ihr wird ein bisschen schwindelig, sie setzt sich auf die Bettkante. Die Tragweite der Lebenslüge. Und sie hatte es mitgemacht. Aktiv mitgemacht, nicht nur irgendwie ertragen, sondern dafür gesorgt, dass es weiterging mit ihnen. Und mit der Lüge. 

Kein Whisky im Haus, eigentlich trinkt sie auch keinen, doch in diesem Moment hätte sie einen Schluck gebraucht. Stattdessen öffnet sie den Schrank. Die eine Tür, die andere, alle. Schaut auf ihr Leben, wie es da im Schrank hängt. Die bunten Sommerkleider und Blusen, die ernsten dunklen Hosen, das Business-Zeug, seine Hemden, Sakkos, Anzüge.

Und sie fängt an zu packen. Systematisch wie zu einem längeren Urlaub. Oberbekleidung der Jahreszeit angemessen, Unterwäsche, Strümpfe. Das Hemd, das nagelneu noch in Schutzfolie ist, der blaue Anzug. Sein Koffer. Sein Reisewaschzeug aus dem Bad, kein Kind würde sehen, dass etwas fehlt, das wollte sie hinauszögern, sie wußte nicht bis wann, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Ein Paar Schuhe, eine Strickjacke, Koffer voll. Sie verschließt ihn sorgfältig. Es tut gut, etwas zu tun. 

Doch was jetzt?

Sie greift ihr Telefon, Tanja nimmt sofort ab. Sagt die erwarteten Worte, was ebenfalls gut tut. Doch diesmal soll es anders sein. Sie berichtet den gepackten Koffer.

Pass auf, sagt sie, ich komme mit Paul zu Dir. Wir sagen bitte nichts, werden Abendessen, spielen, ich sage Sönke Bescheid, dass er auch direkt zu Dir kommen soll. 

Ein paar Details später legt sie auf und fragt sich, wie sie das organisatorisch machen soll. Diese praktischen Dinge zu durchdenken, hilft gegen den Schwall der Gefühle, denen sie auf keinen Fall Raum geben will. Sie läßt den Koffer erstmal wo er ist, hofft auf eine Eingebung und geht in die Küche.

Paul rührt sich lustlos irgendwas in einen Joghurt.

Wir sind bei Tanja zum Abendessen und Spielen eingeladen, wir haben gerade telefoniert, sagt sie.

Cool! sagt Paul, ich hab im Kühlschrank auch echt nix mehr gefunden.

Es ist alles etwas spontan, wir nehmen noch das Gemüse mit, sagte sie, die Sahne und die offene Flasche Wein und wenn Du Sönke anrufen kannst, der soll direkt nachkommen. Wir können sofort los. 

Paul telefoniert, während sie die Sachen in einen Beutel tut.

Was macht sie da? Sie läuft auf Autopilot, bedenkt einen kleinen Schritt nach dem anderen, das gibt Struktur. Und das braucht sie jetzt, Halt in einer Struktur.

Sie nimmt einen Zettel von dem Block für die Einkaufsliste und schreibt: Dies sind Deine Sachen. Du kannst noch mal durchs Haus gehen und mitnehmen, was Du für unverzichtbar hältst. Bitte sei weg, bevor wir zurückkommen. Ich will keinen Anruf. Sei einfach weg.

Sie liest die Worte, findet sie zu freundlich, doch sie will jetzt nicht noch einmal anfangen, faltet ihn zusammen, weiß nicht, wohin damit, behält ihn im Handteller, klein gefaltet. 

Jacke, Beutel, Sohn, Geld, Schlüssel, Autoschlüssel, Handy, Schirm, schnell durch den Regen. Im Auto nestelt sie herum und sagt:

Mist, Schal vergessen, bin sofort wieder da.

Paul stöhnt und spielt weiter auf seinem Handy.

Treppe, Tür, Schlafzimmer, Koffer. Da steht er nun schwer im Flur. Den Zettel klemmt sie unter dem Handgriff gut sichtbar ein. Es rauscht in den Ohren und wieder hat sie diesen fremden Blick, schaut sich in ihrem Flur um, als wäre sie in einem unbekannten Haus. Dann fällt ihr Blick auf ihren Schal, die Trance verweht, sie nimmt ihn mit, das Alibi muss stimmen, und schließt die Tür von außen zweimal ab. 

War es richtig? Die Stelle in der Hand brennt, wo der Zettel gewesen war. Ja, es war richtig. Sie massiert mit dem anderen Daumen die Handfläche, ärgert sich über den Regen, der dicht prasselt und kommt zerzaust und nass auf dem Fahrersitz an.

Können wir endlich los, nölt Paul, immer ist noch irgendwas, wofür wir zurück müssen…

Nee, sagt sie, jetzt geht es nicht noch mal zurück! Ich hab alles, was ich brauche. Bist Du angeschnallt?

Als sie die Ecke passiert an der er vorhin in das andere Auto, in das falsche Auto! gestiegen ist, atmet sie scharf ein und aus. Wischt das Bild beiseite und konzentriert sich auf den Verkehr.

Wand

Er macht kein Licht, als er eintritt. Der Raum ist ihm unbekannt, doch Hotelzimmer sind alle irgendwie gleich und dies ist ein altmodisches Haus. Er ist dankbar, dass nicht automatisch Lampen, Fernseher und wer weiß was noch alles angehen und Lärm machen. Vorsichtig tastet er sich durch den Raum, der nur durch die Straßenlaterne helle Streifen an der Zimmerdecke hat. Er stellt die Tasche ab und den Rucksack, eckt kurz an einem Stuhl an, hängt geistesabwesend seinen nassen Mantel über die Lehne, arbeitet sich durch zum Fenster, zieht die Gardine beiseite. Regen, immer noch. Die Tropfen laufen über die Scheiben, dahinter eine beliebige Szenerie, die in jeder etwas größeren Stadt der nördlichen Hemisphäre sein könnte. Doch nun ist sie hier. Er ist hier. 

Und ist es nicht. Er kann nicht in diesem Hotel sein, er kann hier nicht auf die Straße sehen, es ist einfach unmöglich, dass er jetzt hier sein soll, völlig undenkbar, dass er jetzt und hier hier ist. Wie konnte es dazu kommen… was, wer, warum…

Neue Wut steigt auf, brodelt hoch, summt in den Ohren, schüttelt ihn, die Hände hinterlassen Flecken auf der Fensterbank – was sollte das? Wofür wird er jetzt bestraft, was wird ihm vorgeworfen, was ist das für ein Spiel in dem er nicht mal die Anklagepunkte kennt… in dem ihm die Kommunikation verweigert wird, alle Handys aus sind, auf denen er versucht hat, sie zu erreichen, wieder und wieder und auch Sönke nicht an seins ging. Nachrichten hatte er geschrieben, kurz und wütend, Was, um Himmels Willen, ist los? 

Er war gegen den im Weg stehenden Koffer gerannt, als er hektisch in den Flur getreten war, hatte sich wehgetan, geflucht, das leere dunkle Haus gab keine Antwort. Dann hatte er den den Zettel gesehen, der auf den Boden gefallen war, mit dem vergifteten Angebot, „mitzunehmen, was er für unverzichtbar hält“ – was sollte das? Als hätte er sich daran verbrannt, warf er das Papier weg. Es war sein Haus, seine Wohnung, seine Kinder… und er sollte nun fortgejagt werden wie ein tollwütiger Hund? Schon die doppelt abgeschlossene Tür hatte ihn stutzig gemacht – das machten sie nur, wenn sie in den Urlaub fuhren. Sie hatten immer eine offene Tür gehabt, hatten sie oft gescherzt, man konnte schon froh sein, wenn sie wenigstens ins Schloss gefallen war, was die Jungs gern übersahen. 

Was war jetzt los? Er geht den Abend durch, die Gespräche, sein Widerwillen, in das Konzert zu gehen, der nicht ganz ehrlich war, denn die Stimmung zuhause war schief – nicht schlecht, aber alles andere als gut und schnell aus der Bahn zu kippen. Anke hatte diesen scharfen Blick, dem er gern ausweichen wollte und das Konzert kam ihm gelegen. Doch bei dem Wetter noch mal raus… Mißmutig hatte er ein Taxi bestellt, sich verabschiedet in der Hoffnung, dass die Stimmung später besser wäre. Hatte Schirm und Mantel genommen, seinen Rucksack und war an die Straße gegangen, denn es war natürlich schon spät und er wollte ein bisschen Zeit sparen. Und er wollte schon mal gehen, ja, genau genommen wollte er genau das. 

Und dann – ein unfassbarer Zufall, er schaut kurz hoch, nimmt die Stimmungsschwankung so schemenhaft wahr wie sein schwaches Spiegelbild im Fenster. Er hatte die Begegnung fast vergessen gehabt, dabei war sie den ganzen Abend bei ihm gewesen, im Konzert, im Bus auf dem Heimweg, hatte der Zauber noch gewirkt. Er hatte ihn mit Kraft abschütteln müssen, als er sich seinem Haus näherte, hatte ihren Geruch, das Gefühl ihrer Haut in den Fingerspitzen von der flüchtigen Berührung aktiv wegschieben müssen, sich vorbereiten müssen auf Frau und Kinder, sich anverwandeln, wie einen anderen Anzug anziehen. Reflexhaft hatte er es von sich geschoben, er wollte doch zuhause sein, wollte sie, sie, die Andere, doch nicht mitnehmen nach Hause in eine Welt, wo sie nicht hingehörte, wollte doch dort sein, wollte… Ja, was wollte er? Was will er?

Verstört hatte er im Konzert gesessen. Beethoven war eine Hilfe, keine Frage, doch er konnte kaum folgen. Saß im Strudel, ließ die Musik arbeiten, ließ sich mit der Musik gehen – doch nicht zu weit, doch nicht zu tief, doch nur ein Stück, denn sonst konnte er die Form verlieren, konnte sich auflösen, konnte zu tief fallen, das konnte, das wollte er sich nicht erlauben.

Was er sich erlauben konnte… was er sich erlaubt hatte… zwei Frauen, zwei großartige Frauen, seine Kinder und dazwischen er ohne Plan, ohne Ziel, ohne Form. Anfangs ein aufregendes Spiel, dann ein stressiges Szenario, am Ende eine Ja/Nein-Frage. Unbeantwortbar. 

Er seufzt, wendet sich vom Fenster ab, geht ins Bad, macht ohne Nachdenken das Licht an, steht seinem Spiegelbild gegenüber. Die Metapher kommt ihm abgeschmackt vor, doch er kommt sich fremd vor. So wollte er sich nicht sehen, so wollte er nicht sein, nie. Doch was ist er denn jetzt? Welche Form hat er jetzt? Er fährt sich durch die Haare, sieht Augenringe, einen verspannten Mund, unauflösbare Falten auf der Stirn, sieht das Hemd, das er vor dem Konzert angezogen hat, sieht es und es kommt aus einem anderen Leben. Sieht sich, doch sieht nicht, wer er ist. Wer ist er jetzt, wer gestern, wer morgen. Und wieso ist er jetzt hier? 

Er war wie irre durch die Wohnung gelaufen, hatte alle Lichter angemacht, das Handy am Ohr, hatte geflucht und geschrien, sogar das, hatte nichts erreicht, war wie gegen eine Wand gerannt. Irgendwann war er sitzen geblieben wo er war, auf der Treppe. Die Wand direkt vor sich, Stirn und Nase blutig – nein, es war Schweiß und die Blickrichtung ging treppab. Auch diese Metapher viel zu offensichtlich, doch es blieb kein Raum für Zynismus. Eine blanke Wand. Hier ging es nicht weiter. Keinen Schritt. 

Was hatten sie nicht alles durch. Streit, Paarberatung, neuer Streit, Jahre in Mißtrauen und Respektlosigkeit, die Kinder!, halbe Versöhnungen. Und jetzt dies. Aus dem Blauen. Ohne Grund, ohne Vorwarnung, ohne Anlass. Doch wie er es drehte und wendete, es ging nicht weiter. Alle Worte gesagt, oft gesagt, manchmal geschrien. 

Der Koffer lag unten quer, er konnte eine Ecke davon sehen. Nein, auf gar keinen Fall, so nicht. Schwer war er aufgestanden, war an die Harry-Potter-Kammer gegangen, wie er sie mit seinem Jüngsten immer nannte, unter Treppe, hatte eine alte Sporttasche rausgeholt, war hochgegangen ins Schlafzimmer an den Kleiderschrank. Der vertraute Geruch. Hier hatte sie seinen Koffer gepackt, er konnte ihre Präsenz beinahe noch spüren. Er hatte ein paar Sachen mitgenommen, fahrig, Hemden, irgendwas, Klamotten kann man kaufen. Schuhe hatte er mitgenommen, ein paar Kleinigkeiten aus dem Bad, eine Jacke. 

Und jetzt steht er hier in diesem Bad, sieht sich im Spiegel und sieht durch sich hindurch. Sieht als Spiegelbild den Ring an seinem Finger. Langsam, und er beobachtet sich dabei im Spiegel, nimmt er ihn ab. Er hat ihn oft abgenommen. Beate hatte darauf bestanden, was er verstanden hatte. Er war er für ihn wie ein Hemd, ein Kleidungsstück, nicht bedeutungslos, aber auch nicht zwingend immer da. Leicht geht er ab, erstaunlich. Jetzt liegt er auf der Konsole vor dem Spiegel. Er schaut ihn zum ersten mal direkt an, wundert sich, wie unbeteiligt der Ring da liegt und wundert sich auch über den gelben Goldton, der ihm nie so richtig gefallen hatte und auch nie so richtig stand, er ist kein Typ für Gold – doch diesen Gedanken findet er, kaum gedacht, schon billig und geschmacklos. Seine Gedanken kommentieren seine Gedanken. So kommt er nicht weiter.

Beim Blick ins Waschbecken denkt er an die Szene in der Küche seiner, seiner!, Wohnung. Er war mit der Tasche in der Hand runtergegangen, hatte noch ein paar Bücher und Sachen vom Schreibtisch obenauf gelegt, wirre Gedanken und Gefühlsfetzen, er sah nicht klar. War in die Küche gegangen, ein Glas, Wasserhahn, zittrige Finger. Das Glas war ihm aus der Hand gerutscht in die Spüle, trudelte darin herum und wie in Trance sah er zu, wie es im Abfluss zur Ruhe kam, das Wasser drüber hinweg lief. Als er es in die Hand nahm schoss die Wut hoch wie ein Geysir und in einer einzigen Bewegung schmetterte er das Glas quer durch den Raum, über dem großen Esstisch zerbarst es an der Wand. Schwer atmend hatte er da gestanden. Das Wasser lief noch, überall Splitter. Ruhe im Kopf, ganz kurz nur, doch wenigstens das. Angewidert von der Küche, von allem, von sich selbst, war er gegangen. 

Jetzt läuft das Wasser in diesem Badezimmer, er schaut einen Augenblick zu, wie es sich in den Ausguss windet, dann wäscht er sich die Hände und das Gesicht. Das kalte Wasser tut gut, ein klares Gegenüber, doch sehr flüchtig. Was nun. Die Wut ist weg im Moment, zurück bleibt eine taube Stelle, gefühllos, wie abgestorben. Ratlos geht er zurück in das dunkle Zimmer, geistesabwesend steckt er den Ring wieder an. Er packt die Bücher aus, etwas erstaunt. Den Laptop. Ist das sein Leben? Das, was jetzt davon übrig ist?

Der Portier hatte gefragt, wie lange er bleiben wolle und er hatte einfach Drei Tage gesagt, ohne darüber nachzudenken. Warum war er gegangen? Achja, wegen der Wand. Weil es nicht weiterging. Ein vertrautes Gefühl. Wie lange schon war es eigentlich nicht mehr weitergegangen… und doch hatten sie weitergemacht, irgendwie. 

Komm ins Offene, hatte Beate gesagt. Raus aus dem Schatten, komm! Er war wütend geworden, fühlte sich in die Ecke gedrängt, alles hatte sich in ihm zusammengezogen. Ankes bohrende Blicke, das Misstrauen, die Alltagsheiterkeit, die Absprachen, die gut funktionierende Familienmaschine. Hör auf, sie zu belügen, hatte Beate gesagt. Und dann? 

Und jetzt? Er weiß es nicht. Er legt sich auf’s Bett, schaut an die Decke. Morgen wird er sie erreichen, zur Rede stellen. Seinen Ältesten wird er erreichen, ihn fragen, was los ist, ohne ihn zu sehr zu verstören, das sollte er doch hinkriegen. Er schaut auf’s Handy, als hätte es die Lösung parat. Doch es schweigt. Die Welt schweigt. Der Regen hatte aufgehört. 

Er stöpselt die Kopfhörer ein, wählt Beethoven, Klavierkonzerte. Die Töne greifen zu, ergreifen ihn, er läßt sich ein, läßt los, läßt Beethoven machen, sieht aus dem Fenster, sieht nichts, will nichts sehen, ist Ohr und Atem, ist Fenster und Regen, Land und Wasser.

Epiloge

Der Schirm fällt ihr sofort ins Auge, als sie sich ins Auto setzt. Sie nimmt ihn in die Hand, kein Zweifel, es ist seiner. Sie seufzt. Schirme sind durchlaufende Posten, er wird ihn nicht vermissen. Aber sie will ihn nicht im Auto haben, auch nicht zuhause zwischen den anderen – der Schirm muss weg, muss zurück. Zu ihm. Eigentlich wollte sie einen größeren Einkauf machen, doch das hat Zeit, erst muss das erledigt sein und mit klopfendem Herzen fährt sie los. Sie ist müde, hat schlecht geschlafen nach der Begegnung gestern, und nun auch noch dieser Schirm. Nein, er muss weg. Der Plan entsteht während sie fährt, sie wird den Schirm bei ihm vor die Tür legen, wenn sie sich traut, oder ihn vorne an den Zaun hängen. Feindesland. Es könnte jemand zuhause sein, der Samstagmorgen ist kein guter Zeitpunkt für so eine Aktion – doch nun ist es so und es duldet keinen Aufschub. 

Als sie ankommt, kann sie kaum klar sehen vor Aufregung, hört wie durch Watte, so sehr rauscht das Blut in den Ohren, benebelt alle Sinne. Mit Mühe findet sie das Haus, mit großer Überwindung öffnet sie die Autotür, sie stolpert über die Bürgersteigkante und ihr kommt es vor, als würde sie nur schwankend und wie unter vollem Gegenwind den Zaun erreichen. Auf keinen Fall kann sie noch weiter gehen und fahrig fummelt sie die Schlaufe des Schirms über einen noch regennassen Holzpfosten neben der Pforte. Dabei fällt ihr Blick auf das Haus und dann zuckt sie vor Schreck zusammen. Anke steht hinter einem Fenster, das Telefon am Ohr und starrt sie an. Wie hypnotisiert stehen die beiden da und starren sich bewegungslos an. Ohne eine Miene zu verziehen, aus Stein gemeißelt, die Zeit bleibt stehen. Dann leuchtet das Handy an Ankes Gesicht kurz auf, Beate kann es nicht deuten, ihre Knie geben nach, sie hält sich am Zaun fest und dann nutzt sie diese Chance, dem Traktorstrahl zu entkommen. Drei Schritte zur Autotür, schnell hinein, nichts wie weg, bloß weg… Anlassen, Anschnallen, Gas, alles gleichzeitig, bis zur nächsten Ecke, da würgt sie das Auto ab. Sie kann gar nicht fahren, so sehr zittert sie. Warnblinker an, Stirn aufs Lenkrad, atmen, atmen, atmen. 

Was war das gerade… tief verletzende Blicke, tief verletzte Blicke, eine archaische Wut, eine Aggression, der sie nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen hatte. Wenn sie das Grundstück betreten hätte, wäre sie unter diesen Blicken wahrscheinlich in Rauch aufgegangen. Sie atmet.

Es klopft an die Scheibe, sie schreckt hoch, ein älterer Herr, Karomütze, Hundeleine, guckt besorgt, fragt, ob alles in Ordnung sei, ob er… Sie öffnet das Fenster ein bisschen, sagt so etwas wie Alles gut, nur der Kreislauf, geht gleich wieder. Ah, wollte ja nur mal besser gefragt haben, hört sie noch und ist froh um die frische Luft, die ins Auto kommt. 

So geht es nicht. Gar nicht. Diesen ungebremsten Hass hat sie nicht verdient. Schließlich ist sie doch die, die leer ausgeht, also was soll das?! Welche schräge Rolle hat sie hier zugeschoben bekommen und wie, verdammte Axt, kommt sie hier raus? Mit der neu gewonnenen Energie des Ärgers startet sie das Auto und wünscht sich eine Stinkbombe, um sie über den Zaun zu werfen. Sie lächelt schief über das Bild und die darin steckende Hilflosigkeit und wie es doch ins Schwarze trifft, irgendwie. Sie wendet, fährt noch einmal am Haus vorbei und wirft eine kleine Verwünschung über den Zaun. Klein und stinkend, nur für sie hörbar.

Als sie zum Haus kommt ist alles ruhig. Sie ist nervös. Ob er da ist? Die Übernachtung bei Tanja war leicht in die Wege zu leiten gewesen. Sie ist vor den Jungs aufgestanden, denn sie braucht die Zeit, um nachzusehen, was nun ist. Ihr Handy hat sie noch nicht angeschaltet. Bei Tageslicht sieht die Lage doch irgendwie anders aus und beklommen macht sie die Tür auf, die nur ins Schloss gefallen ist. Da liegt der Koffer, da der Zettel. Ist er …da? Frank? Die Stille ist ihr unheimlich. Mit Schwung hängt sie ihre Jacke auf, poltert mit dem Garderobenständer herum, stellt den Koffer hin, steckt den Zettel in die Hosentasche, reißt sich dann zusammen und schaut in die Küche. Niemand da, kein Kaffeegeruch. Im Wohnzimmer auch niemand. Langsam geht sie nach oben, die Stufen knirschen – niemand. Im Schlafzimmer atmet sie aus, setzt sich aufs Bett. Er ist da gewesen, soviel steht fest. Hat den Koffer stehengelassen. Ihr Zettel kommt ihr nun komisch vor, kindisch geradezu. Sie hätten doch reden können… Wirklich? 

Sie will nicht darüber nachdenken, wo er diese Nacht wohl war und während sie den Gedanken wegschiebt, kommt die Wut zurück. Erstmal Kaffee, denkt sie. Den Koffer muss ich wegräumen, was sage ich den Jungs und … na gut, das Handy muss sie nun wohl auch mal anmachen. Während es hochfährt, geht sie in die Küche, macht die Kaffeemaschine an, holt Milch aus dem Kühlschrank, es knirscht unter den Sohlen. Glas. Glas? Überall Scherben, sogar auf dem Esstisch. Hat er etwa was zerschmissen, achje… war er wohl wütend geworden, denkt sie höhnisch. Mit welchem Recht wird dieser Mann wütend? Sie hat ein Recht auf Wut, auf alle Wut dieser Welt, so ist es doch!

Das Handy explodiert, zig Nachrichten auf allen Kanälen. Sie überfliegt die erwarteten Worte. Wie kommt er dazu, zu fragen was los sei? Wieso spielt er das Unschuldslamm? Was soll diese scheinheilige Wut, muss sie sich das wirklich anhören? Das Telefon am Ohr läuft sie von einem Raum zum anderen, hört sich eine Nachricht nach der anderen an, hört nichts neues darin, steht am Ende wieder mal am Fenster, schaut in die graue Welt ohne irgendwas zu sehen. 

Und dann hält dieses kleine Auto vor der Tür. Und – unfassbar – Sie steigt aus! Sie! Die Frau, die ihr gerade ihren Mann genommen hat, die Frau, die ihre Ehe zerstört und sie alle ins Unglück gestürzt hat, genau diese Frau torkelt auf ihre Eingangstür zu. Ist die betrunken? Oder hat sie die Nacht… Was für eine Frechheit, jetzt hier aufzutauchen! Sie macht sich irgendwie am Zaun zu schaffen. Und dann geht ihr Blick hoch. Und sie starren sich an. Anke steht fassungslos und versteinert da. Ihre Wut wird zu Laserstrahlen, ihre Blicke bohren sich ineinander und sie wird ruhig und eiskalt. Diese Frau da draußen ist an allem schuld, an allem, allem, allem!

Sie steht wie eine Salzsäule, da klingelt ihr Handy, das sie immer noch am Ohr hat. Sie spürt die Vibration in den verkrampften Fingern. Und die Frau draußen flüchtet Hals über Kopf! 

Wie aus einer Trance erwachend schaut sie auf das Display, doch wer sollte es schon sein. Ja?! sagt sie und wartet. Er ist es, doch es passiert nichts. Dann hört sie ihn atmen, Autogeräusche im Hintergrund. Frank, jetzt habe ich schon abgenommen, nun sag auch was, bellt sie ins Telefon mit einer fremden, metallischen Stimme. Schweigen. Was ist das für ein albernes Spiel, fragt sie noch etwas schärfer. Noch einmal hört sie ihn ausatmen, dann legt er auf. Kurz starrt sie auf das erlöschende Display. Dann schleudert sie das Handy mit Kraft und Wut auf das Sofa. Es macht Fump irgendwo zwischen den Kissen. Sie schüttelt sich, schüttelt den Kopf, geht zum Sofa, läßt sich darauf fallen. Den Kopf zurückgeworfen über die Rückenlehne schaut sie hoch zur Zimmerdecke. 

Schneeweiß. Vor gar nicht so langer Zeit frisch gestrichen, wohltuend einfach weiß. Die Ecken und Kanten sind professionell gemacht, die Rosette in der Zimmermitte ausgespart. Weiß mit Weiß, klar und einfach. Graustufen durch das ebenfalls graue Tageslicht. Da eine kleine Unebenheit. Dort ein feiner Riss, erstaunlich, ist er doch wieder aufgetaucht. Wenn man ihn nicht kennt, sieht man ihn nicht, denkt sie. 

Aus den Kissen piepst das Handy. Sie seufzt, gräbt es aus, Tanja. Will wissen, wie die Lage ist. Immer noch mit Blick zur Decke ist ihr plötzlich alles klar. Ich komme, sagt sie. Er ist weg. Ich werde den Jungs einiges erklären müssen.

Während das Taxi in seiner Straße langsamer wird, will er nun doch wissen, ob sie zuhause ist und wo die Jungs sind. Sie brauchen Raum und Ruhe um zu reden, so seine Idee. Er kramt Geld raus, wählt ihre Nummer und zeigt gleichzeitig dem Fahrer, wo er halten kann. Und da sieht er Beate am Zaun stehen, genau vor der Pforte. Beate… hier? Erschreckt und irritiert sieht er sie regungslos stehen und ein wildes Gedankenkarussell geht los, ihm wird heiß und kalt – kommt sie oder geht sie – will sie etwa zu ihm – ob sie mit Anke reden will oder geredet hat – wieso genau heute – …unabsehbare Konsequenzen, alles, alles entgleitet ihm. Sein Plan zerbirst in kleine Teile, die ihm um die Ohren fliegen und die Sicht vernebeln.

Der Blick, mit dem sie das Haus anstarrt, macht einen Riß in den grauen Tag. Der Taxifahrer sagt irgendetwas, er gibt ihm Geld, doch er versteht kein Wort. In diesem Moment steht die Leitung und er hört auf seiner Seite das Tuten. Beate stürzt zu ihrem Auto, fährt hektisch los und da bellt Anke etwas ins Telefon. Er hört sie etwas sagen, sieht, wie Beates Auto am Ende der schmalen Straße abrupt anhält, sieht, wie die Warnblinkanlage angeht. … hatte sie einen Unfall, was ist hier los…? Soll er hingehen, soll er nicht, was, wenn Anke ihn dabei sieht, was, wenn sie… alles weiß… Verstört hört er ihre Stimme am Telefon… nun sag auch was, herrscht sie ihn an. 

Was soll er sagen. Dass er sich etwas vorgemacht hat? Dass er es – sich selbst – die Frauen nicht ernst genommen hat? Nicht ernst genug? Dass er nicht weiß, was er jetzt sagen soll, da sich die Spielregeln offenbar komplett geändert haben? Dass er alles richtigstellen wollte, doch etwas größeres als Richtig und Falsch sich aufdrängt, ohne für ihn greifbar zu sein?

Was ist das für ein albernes Spiel, fragt die schneidende Stimme seiner Frau am Telefon und ja, das fragt er sich irgendwie auch. Und er hat keine Antwort. Er hat nicht mal eine Frage. Er kapituliert vor der Situation, vor seiner Frau, vor seiner Geliebten, vor sich selbst. Und er legt auf.

Bitte fahren Sie mich zurück ins Hotel, sagt er heiser, während er noch sieht, wie ein Mann mit Hund bei Beates Auto anhält und sie das Fenster ein Stück öffnet. Irgendwie findet er beruhigend, dass jemand sich um sie kümmert. Dann wendet das Taxi und fährt los.