Lager
Mit Blick auf ihr Handy und mehrfachem Check-Gegencheck tippte sie den Code in das dafür vorgesehene Fenster. Eine Diode sprang auf Grün, jetzt konnte sie die Tür entriegeln und öffnen. Sie tat es nicht. Stand da, sah auf das grüne Lichtchen wie hypnotisiert. Viel zu viele Gedanken gleichzeitig im Kopf, viel zu viele Gefühle parallel dazu und das einzig greifbare darin war diese kurze Sequenz aus EatPrayLove, wie Liz ihre Sachen in ein garagenartiges Lager bringt und sagt, dass es schon erstaunlich sei, dass ihr ganzes bisheriges Leben jetzt auf fünf Kubikmeter passt. Und der Typ, der die Sachen einlagert schaut über die Schulter und erwidert: Und sie würden staunen, wie wenig Leute ihr Zeug wieder abholen.
War das bei ihr auch so? Sie war nicht freiwillig hier, das „Zeug“ war streng genommen nicht ihres und sie hatte auch keinerlei Verlangen, jetzt diese Tür aufzumachen. Sie erinnerte sich, Kisten, drei oder vier übereinander, standen direkt in der Türfüllung, doch anders hatte es damals auf die Schnelle nicht gepasst. Ganz hinten stand der große alte Schrank, die Anrichte, um genau zu sein. Micha hatte ihr damals geholfen, ihm war es zu verdanken, dass überhaupt alles reingepasst hatte. Vor dem Schrank die kleineren Möbel, alles Antiquitäten. Mit Vorsicht, Verboten und Politur über Jahre von ihrer Mutter gepflegt. Nichts hatte sie anfassen dürfen als Kind. In der Wohnstube, genau so eingerichtet wie das altmodische Wort vermuten ließ, war alles tabu gewesen. Sie hatte den Sessel, in dem sie sitzen durfte, ihren Platz am Tisch, nie ohne Tischdecke, die Füße darunter immer nur in weichen Hausschuhen. Wenn noch Besteck gebraucht wurde zum Abendessen oder ein Untersetzer, dann durfte sie an den Schrank, „sich nützlich machen“, die Schubladen immer nur gleichzeitig mit beiden Händen an den beiden Griffen ziehend öffnen, vorsichtig herausnehmen was nötig war, es auf der Anrichte ablegen und dann wieder mit beiden Händen und nur an den Griffen die Schublade wieder schließen. Es gab nur diese eine Möglichkeit die Schubladen zu öffnen und zu schließen, alle denkbaren Varianten dazu führten unweigerlich zu Schimpf und Schande: „nichts ist euch heilig!“
Sie hasste den Schrank. Er stand ganz hinten, passte gerade so in der Breite an die Rückwand, fügte sich also irgendwie in sein Schicksal. Das Schicksal der Verbannung! Mit einem ganz kleinen bösen Lächeln entriegelte sie die Tür.
Die Umzugskisten standen in der Türfüllung übereinander, hinter ihnen ging flackernd das Licht an. Odyssee im Weltraum, dachte sie, der Monolith. Und wie der Monolith ließen sich die Kisten auch nicht so einfach an einer Ecke wegschieben. Sie musste sie abräumen, kam an die oberste kaum ran, kriegte sie dann doch zu fassen, sie war schwerer als gedacht. Mit Rumms stand die Kiste unten. Die Bildbände, dachte sie. Es war nicht erlaubt, etwas in den Durchgangsflur vor die Türen zu stellen, doch das war jetzt egal, sie räumte sich den Weg ins Innere der Kammer frei.
Eine bescheuerte Idee, alleine da hinzugehen. Mir vier Händen wäre es einfacher gewesen, sich zum Sekretär durchzuarbeiten. Auch lustiger wäre es gewesen. Doch ihr ganzer Widerwille, überhaupt hinzugehen, hatte dafür gesorgt, dass sie niemanden fragen wollte. Und irgendwie war es auch folgerichtig, dass sie nur mit großer Mühe und Millimeterarbeit und von Ärger angetrieben sich hineinbohrte in die Untiefen ihrer Vergangenheit, um den Auftrag ihrer Mutter auszuführen. Natürlich war es ein Auftrag ihrer Mutter! „Das kann doch nicht so schwer sein, schau einfach mal beim Sekretär in die kleine Schublade oben rechts, das wirst du doch wohl schaffen! Die hat einen doppelten Boden, wenn man an der Hinterkante drückt, kippt der Boden und das kleine Fach darunter wird sichtbar, das hab ich dir doch schon tausendmal gesagt! Und da muss der Ring sein und den schickst du mir! Den Ehering meiner Mutter! Vater hat ihn jahrelang aufbewahrt und jetzt wo mir endlich eingefallen ist, wo er wohl sein könnte, ist dir offenbar vollkommen unwichtig, was es mir bedeutet. Du wirst doch wohl einfach mal hingehen und gucken können, ich bleibe am Telefon!“
Wie sollte sie ihrer Mutter sagen, dass die Möbel samt Inhalt seit fast zwei Jahren in diesem Storage waren. Gut klimatisiert und temperiert und niemand, wirklich niemand fasste sie an. Ewige Haltbarkeit und Sicherheit, nie wieder Flecken und Fettfinger oder gar Kratzer an den guten Stücken. Eigentlich eine Idee, die der Mutter gefallen müsste. Doch die gute Tochter hatte versagt. Hatte nicht die Ehe, die die Mutter sich vorgestellt hatte, hatte nicht die Kinder, die sozusagen vorbestellt waren, und hatte eben auch nicht die repräsentative Wohnung mit genug Platz für Möbel dieser Art. Und selbst wenn – sie kämen niemals in ihre Wohnung. Ihre Geschwister hatten auch rundheraus abgelehnt. Simone mit Ach und Je und du weißt doch, dass Matthias sich nie mit Mutter…, und mit den Kleinen, wenn die uns besuchen, das geht doch nicht, da leiden die doch – wer genau? Die Enkel oder die Möbel, hatte sie sich gefragt. Sebastian hatte ihr schlicht einen Vogel gezeigt, was sollte er in seiner politischen Groß-WG auf dem Lande mit einer großbürgerlichen Anrichte, einem Sekretär, einer Herrenkommode und einem barocken Eckschrank, alle samt Inhalt. Sie hatte sie also genommen, irgendwo mussten sie ja hin. Denn für eine andere Entscheidung fehlte den Geschwistern damals die Kraft. Und dass Mutter nach Vaters Tod nicht ihr gesamtes Mobiliar in die Seniorenresidenz mitnehmen konnte, war offensichtlich.
Sie schob und quetschte sich zwischen Kisten und Möbeln durch, rückte hier zwei Zentimeter, dort zehn und stand schließlich schweißgebadet und schwer atmende vor dem Sekretär. Die Kisten davor mussten noch vier oder fünf Zentimeter nach vorne, dann konnte sie die Klappe des Sekretärs so weit öffnen, dass sie an die obersten kleinen Schubladen herankommen sollte. Dreimal hatte ihre Mutter davon angefangen. Immer Freitags um 11h rief sie an, egal, was ihre Tochter gerade tat, dieses Telefonat war Pflicht, jede Woche ohne Ausnahme. Und jetzt mit diesem neuen Thema: „Juliane, ich bitte dich! Das kann doch nicht so schwer sein!“ Ich bin nicht zuhause, hatte sie gelogen, ich bin im Büro, ich bin gerade etwas anprobieren in einer Umkleidekabine, ich bin draußen auf dem Weg zum Einkaufen… so langsam gingen ihr die Erklärungen aus, denn natürlich konnte sie kurz auf den Balkon gehen oder die Kleiderschranktür aufmachen um die Akustik der Umgebung zu verändern, doch sie kam sich bescheuert vor damit. Sie kam sich überhaupt bescheuert vor, diese ganze Lügerei ging ihr auf die Nerven, wann hatte sie damit angefangen… nicht erst vor zwei Jahren. Eher vor 20. Sie erinnerte sich nicht, jemals vollkommen frei, offen und ehrlich zu ihrer Mutter gewesen zu sein – und schob den Gedanken weg wie eben noch die Kommode vor ihr. Mühsam, aber effektiv und pragmatisch.
Endlich waren die Kisten weit genug weg und der vertraute Muff entstieg der einen spaltbreit geöffneten Schreibtischklappe. Mit verdrehten Fingern fummelte sie von der Seite die kleine Schublade heraus, die wie durch ein Wunder ganz leichtgängig war und problemlos durch den Spalt passte. Die Schublade war leer, doch sie hatte ein leises Klappern gehört und schüttelte sie noch mal. Es klapperte. Sie drückte an der Hinterkante auf den Boden und wie eine Wippe klappte dieser vorne hoch. Und tatsächlich, in dem kleinen Fach unter doppeltem Boden lag etwas. Mit schweißklebrigen Fingern wickelte sie aus altem Seidenpapier einen rotgoldenen Ring. Erstaunlich breit, sehr flach, fast scharfkantig vom vielen Tragen. Millionen feiner Kratzer auf der Oberfläche fingen das Licht und gaben einen weichen Schimmer. Innen war schwungvoll eingraviert: F.S. 1906. Die Abkürzung für Friedrich Scheller, der Ring ihrer Oma, kein Zweifel. Und er war wunderschön. Mit aufkeimender Ehrfurcht und fast ein bisschen Scham probierte sie ihn an. Auf dem linken Mittelfinger passte er, als wäre er dafür gemacht. Erstaunt sah sie ihre Hand an, die vollkommen anders aussah mit diesem Ring. Ernster. Vollständiger. Der Gedanke war da und sie hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Etwas verwirrt nahm sie den Ring wieder ab, ungern. Wickelte ihn wieder in das Seidenpapier, und der Finger, wo eben noch der Ring gewesen war, fühlte sich nackt an, die Hand sah aus wie beraubt. Einmal durchatmen, sagte sie sich, jetzt muss ich erstmal wieder hier raus. Sie stopfte das kleine Päckchen vorne in die Hosentasche, nahm die Schublade und wollte sie gerade wieder seitwärts hochkant in den Sekretär einbauen, als noch etwas leise klappernd herausfiel. Glücklicherweise fiel es ihr direkt in die Hand und nicht auf den Boden, niemals hätte sie sich in der Enge bücken können.
Es war noch ein Ring. Schwarz angelaufen, deshalb hatte sie ihn nicht sofort gesehen, offenbar ein silberner Ring. Sie hatte ihn noch nie gesehen und es war auch noch nie die Rede von ihm gewesen. Ein kleiner blauer Stein funkelte in einer altmodisch hervorstehenden Fassung, das Metall war komplett schwarz. Wer bist du denn jetzt auf einmal, fragte sie den Ring und bewegte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie ließ das Blau im Licht funkeln und fand auch an diesem Ring reichlich Spuren vom Tragen. Und dann fand sie auch hier eine feine Gravur, die kaum Platz hatte in dem schmalen Reif. Sie konnte die Schrift nicht entziffern. Aus der hinteren Hosentasche holte sie mit etwas Mühe das Handy und machte die Taschenlampe an. Was nicht half, viele Lichtreflexe und die Schrift war so klein, dass nur eine Lupe… sie machte ein Foto. Vergrößerte es. Und las: Dein Wolfgang 1959. Verglich Foto und Ring einmal, zweimal. Ein Verlobungsring? In ihrer Familie gab es weit und breit keinen Wolfgang. Ihr Vater hieß Jan-Philip, Oberstudienrat, geboren in Hamburg aus einer gut situierten Familie, hatte Ingelind, ihre Mutter geehelicht im Jahre des Herrn 1962 und im Jahr darauf war ihre Schwester Simone zur Welt gekommen, dann später sie, dann ihr Bruder. Kurz hatte sie das Bild ihres Vater vor Augen, immer in Hemd und Anzughose, seine Platte, von einem Haarkranz umgeben, seine feine Art, sich auszudrücken, seine Art, zu schweigen und seiner Frau komplett das häusliche Feld zu überlassen, der Mann, der gebildet war, gut verdiente und seine Frau zur Frau Oberstudienrat machte. Von seiner Pension und der großen Witwenrente konnte ebendiese Frau Ingelind Oberstudienrat nun in der feinen Seniorenresidenz residieren und ihre Aufträge in Welt posaunen. Sein Name hätte hier stehen müssen! Aber wer war Wolfgang?
Auf dem Gang hörte sie Leute vorbeigehen, sie beschwerten sich auf Spanisch über die Kisten, die im Weg standen, gingen aber vorbei und sie kümmerte sich nicht weiter darum.
Ihr Hirn hatte kurz ausgesetzt. Wie hätte ein Wolfgang aussehen können… das Bild eines Mannes in Karohemd und Kordhose stieg in ihr auf. Ein breitschultriger Mann mit kernigem Kinn und klarem Blick – alles Hirngespinste, Unsinn! Doch die Schrift war da, schwarz auf schwarz – wer war er wirklich? Gehörte der Ring tatsächlich ihrer Mutter? Und wenn – wer war denn dann ihre Mutter? Kannte sie diese Frau, die einen Verlobungsring von Wolfgang getragen hatten? Ratlos sah sie den Ring an. Sie mochte ihn nicht anprobieren, sondern schob ihn vorsichtig zu dem anderen in die Hosentasche. Sie warf noch einen Blick in die Schublade, doch jetzt war sie wirklich leer und hatte keine Antworten parat.
Um die Kammer zu verlassen, musste sie sich den Weg wieder frei schieben und ziehen ohne den Antriebsärger, den sie vorhin noch gehabt hatte, doch es hatte alles ein anderes Gewicht. Sie griff zu, schob hier die Hinterlassenschaften eines Lebens herum, in dem ein Wolfgang gewesen war. Ein nur ihrer Mutter noch bekannter Mann. Wenn sie denn das wirklich und wahrhaftig glauben konnte – der Mann vor ihrem Vater. Ein Verlobter! Die Mutter war Jahrgang 1940, sie war also 19 Jahre alt, als dieser Wolfgang um ihre Hand anhielt. Das passte zeitlich. Und warum auch nicht, auf alten Fotos sah eine freche junge Frau mit weißblonden Haaren aus den gezackten Rahmen heraus, mit Grübchen und Sommersprossen und Lebenslust. Schon immer waren ihr diese Fotos fremd, wie gefälscht vorgekommen, denn die abgebildete Frau hatte mit ihrer Mutter so wenig zu tun wie die Sonne mit dem Mond. Wo war sie hin, die junge Frau, wo waren das Lachen und die Lebenslust? Sie kannte ihre Mutter hochgeschlossen, niemals mit offenem Mund lachend, die lila oder blau getönten weißen Haare immer hoch toupiert und fest gesprayt, eine Haube, ein Helm, jedes Haar unter Kontrolle, ihre helle Haut teigig und irgendwie konturlos. Was war passiert? Hatte dieser Wolfgang etwas damit zu tun? Was war mit ihm passiert? Und mit ihr? Und wenn… wenn sie sich für ihn entschieden hätte…? Ein anderes Leben, andere Kinder, andere Enkel, andere Verhältnisse, alles anders. Und sie, Juliane, genannt Janne, geboren 1965 in Fuhlsbüttel, wäre nicht da. Ihre Geschwister nicht, ihr Leben nicht und das Leben der Mutter wäre ein anderes. Vermeintlich fester Boden wurde weich und schwammig.
Während sie die Tür verriegelte beschloss sie, ihre Mutter zu fragen. Eine einfache offene Frage zu stellen: Wer war Wolfgang? Sich nicht mit Abwiegeln oder Beschimpfungen oder Ausflüchten zufrieden geben. Hartnäckig konnte sie auch sein, bis zur Sturheit, genau wie ihre Mutter. Wer war diese hart gewordene Frau, bevor sie hart geworden war? Doch was, wenn die Mutter genau gewußt hatte, dass zwei Ringe in dem Fach lagen? Was, wenn es alles inszeniert war und sie diesen Ring finden sollte? Doch sie hatte etwas besseres als die Geiselhaft eines fast 120 Jahre alten goldenen Ringes: Sie hatte die Wahrheit. Kurz schwankte sie, als sie Treppe runterging, der Gedanke fasste sie wie eine heftige Bö von der Seite. Sie hatte die Wahl, konnte aufhören mit den Lügen und Stück für Stück die Wahrheit sagen. Über die Möbel und ihren Aufenthaltsort. Über ihr Leben und ihre Ziele. Über sich, über ihre Beziehung zu ihren Geschwistern. Darüber, wie sehr sie ihren Vater immer noch vermisste. Das junge Ding mit dem offenen Blick, diese junge Frau hätte sie gerne kennengelernt. Die Wahrheit als Angebot, als Einladung, als Aufforderung zum Tanz. Sie fasste in der Hosentasche nach den beiden Ringen, sie waren noch da, beruhigend und beunruhigend gleichermaßen. Darüber muss ich eine Nacht schlafen, dachte sie, als sie aus dem Gebäude auf die Kreuzung trat und die Sonne sie blinzeln ließ, bis zum nächsten Freitag 11h war noch ein bisschen Zeit.
Ring
Ihre Freundin Sabine hatte es letztens so formuliert: Der Ring hat aus dir eine Andere gemacht. Sie trug ihn, seit sie ihn damals gefunden hatte. Das breite goldene Band lag um ihren Finger wie ein warmer Sonnenstrahl und wenn sie ihn abnahm, zum Duschen oder bei einem größeren Abwasch, oder wie jetzt, um Salat zu waschen, war der Griff zum Ring immer das erste sobald die Hände trocken waren. Während sie die Salatblätter in die Schleuder tat, gingen ihre Gedanken auf Wanderschaft.
Sie war nach Hause gefahren damals, nachdem sie ihn aus dem Schrank geborgen hatte und nur mit Mühe hatte sie der Versuchung widerstanden, ihn in der U-Bahn aus der Hosentasche zu holen. Doch das war der falsche Ort. Und als sie in ihrer Wohnung war, musste sie auch dort noch kurz überlegen, welcher Ort der richtige war, um ihn aus dem Seidenpapier zu wickeln. Der Schreibtisch war es nicht, das kleine Couchtischchen war es nicht. Der Küchentisch war richtig. Ein schweres altes Möbel, unpraktisch quadratisch und schrundig, noch ein paar Krümel vom Frühstückstoast, die sie kurz weggewedelt hatte. Dort hatte sie beide Ringe auf das dunkele Holz gelegt und sich hingesetzt. Der angelaufene Silberring hatte durch den Transport in der Hosentasche etwas mehr Konturen bekommen. Die Höhen waren wieder etwas heller, besonders um den blauen Stein herum, und insgesamt hatte er mehr Glanz. Dein Wolfgang. Sie schüttelte den Kopf und ließ die Ungereimtheit so liegen.
Vorsichtig, wie etwas sehr zerbrechliches, wickelte sie den anderen Ring aus dem zarten Papier. Schimmerndes Gold auf altem Holz. Eine weiche Oberfläche, wie Haut, sogar etwas warm fühlte er sich an. Sie hatte lange am Tisch gesessen und gestaunt, ihn von allen Seiten angesehen, über die Fläche und die Rundung gestrichen, die Kante abgetastet, sogar Fotos hatte sie gemacht. Die beiden Ringe konnten kaum unterschiedlicher sein. Und wie sie schwarz und gold nebeneinander lagen, wurde auch klar, dass sie unterschiedlichen Frauen gehört haben mussten, denn der Silberring war etwas kleiner – gut für eine 19jährige. Wobei die Oma sicher auch nicht viel älter gewesen war, als sie geheiratet hatte. Doch das Leben auf dem Land und ihre ganze freundliche Rundlichkeit hatten einen anderen Ring hervorgebracht. Die Freundlichkeit ihrer Oma. Ihr Lachen, ihre direkte Art, alles war ihr wieder eingefallen und sie wärmte sich an diesen Erinnerungen. Lisbeth Scheller, geborene Hartje. Immer in Verbindung mit Kakao, Butterbrot oder Apfelkuchen, in ihrer Kindheit für sie die himmlische Duftnote der Oma.
Und nun hatte sie ihren Ring. Sie hatte ihn auf den linken Mittelfinger geschoben und ihr war vollkommen sonnenklar geworden, dass sie ihn nicht wieder hergeben würde. In Kombination mit dem ausgewaschenen T-Shirt, der Sweat-Jacke, den uralten Jeans, ihrer ganzen eher nachlässigen und nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählten Kleidung, hätte er wie ein Fremdkörper wirken müssen. Doch im Gegenteil. Der Ring strahlte eine entspannte Eleganz aus, war sich nicht zu schade für Jeans und Sneaker.
Während sie die Tomaten wusch und das passende Messer raussuchte, fiel ihr ein, wie ihre Freundinnen reagiert hatten. Natürlich war der Ring ihnen sofort aufgefallen, nicht nur, weil sie begeistert und wie frisch verliebt von ihm erzählt hatte, sondern weil er an ihr, die allerhöchstens mal kleine Ohrstecker trug – silberne, verschämte Steckerchen – sofort ins Auge fiel. Sie hatten herumgewitzelt, der Ring der Macht, ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden… und welche Macht er wohl auf sie ausüben würde. Sie hielt überhaupt nichts von Magie und Spökenkiekerei und hatte alle Ideen dieser Art schroff von sich gewiesen. Doch wenn sie alleine war und über das Gold strich und sich nicht satt sehen konnte an dem sanften Schimmer, fragte sie sich durchaus, was das eigentlich war zwischen ihr und dem Ring.
Doch jetzt musste sie sich ein bisschen beeilen um noch alles fertig zu kriegen, denn sie hatte die Freundinnen eingeladen. In knapp einer Stunde würde sie mit ihnen um den alten Tisch herum sitzen, Lasagne und Salat essen, und die Mousse au Chocolat von Susanne würde wieder mal das Highlight des Abends sein. Sie würden den Wein loben, den Anne mitbringen würde und Sabine würde zu den Antipasti eine wilde Geschichte erzählen, wie knapp es alles gewesen sei und wie kompliziert, genau diese zu finden… alles sehr vertraut und sie freute sich auf den Abend.
Und dann kamen unweigerlich die Gedanken an ihre Mutter. An das erste Telefonat nach dem Fund der Ringe. Ja, hatte sie gesagt, ja, ich habe ihn gefunden, und dabei hatte sie mit dem silbernen Ring zwischen den Fingern gespielt. Dochdoch, er war genau da, wo du gesagt hattest, natürlich. Sicher schicke ich ihn dir, kein Problem, muss nur einen wattierten Umschlag besorgen, damit er keinen Schaden nimmt. „Mach ein Päckchen daraus!“ Hatte ihre Mutter gesagt. Keinen Umschlag, wo man schon von außen fühlen kann, was drin ist, sondern ein kleines Päckchen, das sei besser. In Ordnung, hatte sie gesagt, mache ich gerne. Ihre Mutter hatte gestutzt. Oder sie hatte es sich eingebildet. Einfach so kampflos eine Idee aufzugeben und einen Verbesserungsvorschlag ihrer Mutter anzunehmen, war ihr noch nie so leichtgefallen. Und ihre Mutter schien erstaunt. Keine Sorge, ich packe den Ring gut ein, hatte sie gesagt, jetzt, wo er wieder aufgetaucht ist. „Was heißt denn aufgetaucht, er war immer da, du hättest schon viel früher einfach mal nachschauen können…“ ging eine Tirade ihrer Mutter los. Und sie hatte bei der nächsten sich bietenden Atempause gesagt, dass der Schrank nicht in ihrer Wohnung stünde. Die Verwirrung ihrer Mutter, die Pause, die sie machte, die Suche nach Worten, ein bisschen tat sie ihr leid. Und da gerade Platz war im Luftraum, und sie gleich anderen Vermutungen zuvor kommen wollte, schob sie noch nach: Der Schrank steht in einem Lager, da musste ich erstmal hin. „In was für einem Lager…?“ Ihre Mutter war so verwirrt, so um Fassung bemüht und so sprachlos, dass Janne gleich noch etwas nachlegen konnte. Keine Sorge, sagte sie, der Schrank steht da gut, keiner rührt ihn an und er ist auch noch versichert, genau wie die anderen. Ein Japsen am anderen Ende der Leitung zeigte ihr, dass ihre Mutter verstanden hatte. Die anderen Möbel waren auch dort. Bevor jetzt noch etwas schiefgehen konnte, hatte sie das Gespräch beendet, eine fadenscheinige Ausrede erfunden, warum sie auflegen musste und als sie es getan hatte, atmete sie lange und tief aus. Ein Anfang. Sie hatte den Ring an der Hand angeschaut, die bis eben noch das Telefon gehalten hatte und es erschien ihr alles richtig. Na gut, nicht alles, aber doch die Richtung, die war richtig. Und dann hatte sie den silbernen Ring eingepackt und ihrer Mutter kommentarlos geschickt.
Während sie die Salatsoße anrührte, erinnerte sie sich daran, dass sie ein bisschen schadenfroh gewesen war, als sie das Päckchen aufgab.
Es klingelte. Viel zu früh, viertel vor sieben, das konnte nur Susanne sein, die immer gern etwas früher kam. Sie trocknete sich die Hände ab, steckte den Ring an und ging zur Tür.
Im dämmerigen Licht des Flurs sah sie auf ihre Hand, die den Summer betätigte. Die Freundin kam schnaufend die letzten Stufen hoch, beschwerte sich über die Treppen, wie immer und sie fielen sich um den Hals, wie immer. Wann hatte dieses „Immer“ angefangen? „Aperetívo?“ fragte sie und Sabine sagte „Klar doch!“ Und nach einem prüfend-amüsierten Blick: „Gut siehst du aus, sehr gut!“ Der Abend fing gut an.