Die Tür war nicht das Problem. Sie hing schief in den Angeln, doch da sie nach innen aufging, konnte sie sie mit etwas Mühe und mit einem Kratzen, das Schleifspuren auf dem Fußboden hinterließ, öffnen. Der Schuttberg, der vor der Tür lag und der schräg zum Auge des Treppenhauses hin abfiel, der war etwas komplizierter. Durch das, was einmal die Decke und der Dachboden des Treppenhauses gewesen waren, konnte sie den grauen Himmel sehen. Sie musste niesen, der Staub hing rot und weiß in der Luft, funkelte im Licht, tat harmlos.
Das Geländer war weg, die geborstenen Stümpfe der Pfosten hingen durch den Handlauf noch lose aneinander über dem vier Stockwerke tiefen Abgrund. Da also rüber. Vorsichtig setzte sie den ersten Fuß auf den Schutt. Steine, altes Mauerwerk, Dachpfannen, dazwischen die Dachsparren und ein größerer Balken. Der zweite Schritt, Gewicht nach außen in Richtung Wand, in Richtung Berg, kleine Steine und Geröll fielen herab, tief unten hörte sie sie aufschlagen. Aus Angst und Mut drei kurze schnelle Schritte und ein großer und sie war drüben angekommen, fester Boden unter den Füßen. Zumindest schien es erstmal so. Sie drehte sich um, sah sich das Trümmerfeld an, die schief hängende Tür, die vertraute Tapete im Flur, ein Teil der Lampe.
Schwankend, um Löcher, durch Brocken von Putz und Mauerwerk und immer wieder rieselnden Schutt von oben, fand sie dicht an der Wand entlang einen Weg nach unten. Sie schüttelte die Haare aus, klopfte sich den Staub aus der Kleidung, schüttelte den Kopf öfter als nötig, fragte sich, was passiert war.
Sie hatten geredet. Schon lange hatte er herumgedruckst, war emotional abwesend, antwortete auf Fragen ausweichend – er war sich nicht mehr sicher, das war ihr klar. Doch was dann kam, hatte sie nicht erwartet. Seit drei Jahren, heimlich, als Abenteuer angefangen, sie 20 Jahre jünger, du kennst sie doch – ohja, sie kannte sie! – dann immer tiefer geworden, seelenverwandt, jetzt im dritten Monat, mit leuchtenden Augen spricht er darüber, dass er Vater wird – und sie könnte doch als, wie soll man das nenne, Tante?, und er will sie auf keinen Fall aus seinem Leben werfen… war das der Moment, als alles in die Luft flog? oder war es schon vorher, als er ‚im dritten Monat‘ gesagt hatte? Oder war es erst, als er mit Hundeblick um Vergebung bat?
Die Detonation war so gewaltig, dass sie kurz von Lärm und Druckwelle wie betäubt war. Alles hatte gebebt, einen Sprung gemacht war einmal kurz aus der Schwerkraft gehebelt, hatte sich wieder gesetzt, doch nichts war wie vorher. Sie hatte ihre Jacke gegriffen, ihre Tasche, war zur Tür gestolpert, sie wollte nur raus und weg.
Jetzt stand sie unten im Hof, sah kurz hoch, hatte fast erwartet, ihn am Fenster zu sehen, doch das Fenster blieb leer. Wahrscheinlich telefonierten sie gerade. Ging das Netz überhaupt? Hatten die Nachbarhäuser etwas abgekriegt? Wieso keine Sirenen?
Sie ging auf die Straße, die Welt schien schwarz-weiß. Schwelende Autowracks, Bäume quer über der Straße, große Löcher im Teer. Zur nächsten größeren Straße waren es nur ein paar Meter, mühsam arbeitete sie sich durch zerbrochene Äste und unter den Schuhen knirschte Glas.
In der Straßenbahn fiel sie nicht besonders auf. Ihr Blick war nicht wirrer als der von vielen anderen, ihre Kleidung nicht staubiger, ihr Gang nicht gebeugter, wahrscheinlich hatte sie einen harten Tag gehabt, wer hatte das nicht.
Erst zuhause in ihrer Wohnung fiel sie in sich zusammen. Fand sich auf dem Teppich liegend wieder. Ihre Katze stubste sie mit leicht feuchter Nase an der Stirn, als würde sie fragen: He, was ist denn mit dir los? This is the end of the world as we know it, dachte sie. Mit Mühe fand sie ins Bett, fiel in einen bleischweren Schlaf, der nur zwei Stunden dauerte, dann ging das Kopfkarussell los. Rasende Gedanken, Visionen, Schweißausbrüche, die Trümmerberge, warum, wieso, wie jetzt weiter, was hatte er sich dabei gedacht, wieso hat er es nicht früher gesagt, als es noch zu retten gewesen wäre vielleicht, und jetzt… ein Baby… ihr wurde schlecht, sie würgte und fand taumelnd gerade schnell genug im Dunkeln den Weg zum Klo, kotzte, kotzte alles raus. Und als sie wieder atmen konnte, den Mund mit Wasser spülte und sie in den Spiegel sah in ein zerstörtes, verstörtes Gesicht, kam ihr eine Idee. Es war jetzt eh alles egal, es lag schon alles in Trümmern, kein Mensch würde sich wundern. Ihre Wut triumphierte, hatte jetzt ein Ziel, der Gedanke war so stark und klar, dass sie davon ganz kalt und ruhig wurde. Morgen würde sie alles angehen. Sich von der Arbeit krank melden und alles tun, was nötig war.
Ihre Welt war schwarz-weiß, der tiefblaue Augusthimmel, die grünen Blätter der Bäume, alles Spielarten von Schwarz. Die Fassaden der Häuser, die hellen Sommerkleider, Spielarten von Weiß. Sie hatte alles organisiert, es war deutlich einfacher gewesen, als sie angenommen hatte. Die Kälte in ihr hatte sie klar und schnell handeln lassen. Sie sah über ein rauchendes Trümmerfeld und ging in Gedanken alles durch. Hatte genug Videos gesehen, um jeden Handgriff zu kennen, in ein paar Tagen würde sie alles da haben und konnte am Gerät selbst üben. Sie war technisch nicht unbegabt, es würde gehen. Jetzt musste sie nur noch die Frage klären, wann der beste Zeitpunkt war.
Doch da kam er ihr selbst zu Hilfe. Er rief an, entschuldigte sich, druckste rum, wollte etwas klären, Übergaben machen von Eigentum, sie fand das alles vollkommen irrelevant. Es hatte keine Bedeutung mehr, ob noch etwas von ihr bei ihm rumlag. Sie war raus und diese Dinge waren nur Dinge. Und was noch von ihm bei ihr gewesen war, hatte sie mit Gummihandschuhen in eine Plastiktüte getan, als wäre es kontaminiert, mit Bedeutung aufgeladen und eben jene pausenlos abstrahlend, und hatte alles weggeworfen. Nun hatte sie ihn am Telefon und ließ ihn reden, ließ die Worte durch sich durch, nichts fand in ihr einen Widerhall, es war wie leeres Geklapper mit Geschirr beim Abwasch. Bis er sagte „… da wir ja übermorgen für zwei Wochen wegfahren…“. Dieser Satz blieb hängen, drehte und kreiselte in ihrer Wahrnehmung, doch sie sagte immer noch nichts. Da er insistierte, drängte und immer fordernder wurde, sagte sie irgendwann „Mach, was du willst, aber lass mich in Ruhe“ und legte auf. Sofort klingelte es wieder und sie schaltete das Telefon ab. Nächste Woche also, dachte sie. Gut, dann also nächste Woche.
Mit einem Mietwagen fuhr sie drei Tage später langsam durch die Straße. Sie wußte, wo sie, die andere, 20 Jahre jünger, blond und schnuckelig, wohnte. Die kleine Wohnung in der oberen Etage des Fünfzigerjahre-Hauses, unter ihr die alte Dame, das konnte ein Problem werden, darüber musste sie noch nachdenken. Gegenüber ein kleiner Park mit Spielplatz, das war immerhin gut. Wohnzimmer und Küche gingen nach vorne raus, Bad und Schlafzimmer nach hinten, das war ein bisschen schade.
Sie nahm jeden Abend einen anderen Wagen, fuhr mal mit Mütze, mal mit Kopftuch, mal mit hochgesteckten Haaren langsam durch die Straße. Sie hatte ein Ziel, das tat gut. Was sie danach tun würde, wußte sie nicht, das würde sich dann ergeben. Das Haus lag leer und ruhig und seit zwei Tagen war auch die untere Wohnung abends immer dunkel, vielleicht war die alte Dame auch unterwegs, das wäre gut. Morgen sollte es soweit sein, sie hatte alles vorbereitet.
In der nächsten Nacht kam sie mit einem schwarzen Share-Mietwagen vorgefahren, hielt in etwas Entfernung. Das Haus war dunkel, sie hatte sich am Abend nochmal davon überzeugt. Auch selbst ganz in schwarz mit einer engen Fahrradmütze über den Haaren ging sie zur Straßenlaterne, die gegenüber des Hauses vor dem kleinen Park stand und mit ein paar gezielten Tritten gegen die Lampe ging diese aus. Ein Spiel, das ihr schon als Jugendliche Spaß gemacht hatte. Nach gewisser Zeit würde die Lampe wieder an gehen, als wäre nichts gewesen. Als der Straßenabschnitt im Dunkeln lag, ging alles sehr schnell und sie fragte sich hinterher, ob sie es wirklich getan oder nur geträumt hatte. Doch das Auflodern der Flammen nach dem Aufprall und der Explosion war ganz echt gewesen und viel heller, als sie gedacht hatte. Die Zerstörungsleistung der Tandemhohlladung war beachtlich und sie hatte keine Zeit gehabt, die Wirkung zu genießen, denn sie musste sofort weg. Das Trägersystem der Panzerfaust warf sie achtlos zurück in den Kofferraum und fuhr los, gut, dass sie die Kennzeichen des Wagens vorher mit Schlamm beschmiert hatte. Im Rückspiegel sah sie, wie die Flammen durchs Dach brachen, offenbar hatte es eine Gasetagenheizung gegeben, hübscher Effekt. Ein Kichern, ein Glucksen, ein lautes Lachen brach sich in ihr Bahn, sie lachte bis ihr die Tränen kamen, konnte nicht aufhören, fuhr irgendwann rechts ran, um sich zu beruhigen. Dann fiel ihr ein, was sie noch tun wollte, kramte das Prepaid-Handy raus und rief die Feuerwehr an, Ordnung muss sein. Nach ihrer Meldung ohne Angaben irgendwelcher Personalien, nahm sie die SIM-Karte raus und zerbrach sie. Beim Anfahren ließ sie eine Hälfte aus dem Fenster fallen, die andere warf sie raus als sie an einer Ampel stand und niemand weiter zu sehen war, nachts um halb drei auf einer kleinen Nebenstraße.
Am nächsten Morgen wachte sie auf und hörte die Vögel draußen. Bevor sie die Augen aufschlug, holten sie alle Bilder der letzten Nacht wieder ein und ein ungewohntes Gefühl machte sich in ihr breit, stieg aus dem Bauch nach oben, breitete sich im Brustraum aus wie ein Husten, doch es waren ein Lachen, ein Weinen, ein Stöhnen, eine Erleichterung, ein Anfang und ein Abschluss, alles gleichzeitig. Ihre Katze sprang aufs Bett und wollte mal gucken, was denn da los war. Während sie die Katze kraulte und sich langsam beruhigte, dachte sie noch an den Weg nach Hause, ziemlich weit zu Fuß und mit dem Trägersystem im Rucksack. Doch ohne Mütze und mit offenem Hemd, die weiche Nacht um sich herum, schwarz in schwarz mit langsam heller werdenden Flecken im Nordosten, wo irgendwann später die Sonne aufgehen würde. Es hatte sich ganz klar gelohnt, die Bunkerfaust zu nehmen, eine einfache Panzerfaust hätte nicht so viel gebracht.
Als sie sich den ersten Kaffee machte, den sie mit zurück ins Bett nahm, war sie ganz ruhig. Sie beobachtete ihre Hände, als wären sie fremd, und diese machten mit gezielten Bewegungen alles notwendige, zitterten nicht, waren warm und geschmeidig. Es war gut gewesen, die Handschuhe erst auszuziehen, als sie das Auto verlassen hatte. Das Trägersystem war ein unauffälliges Gestell, niemand würde erkennen, was es ist und sie hatte es noch in der Nacht im Kellerflur des Nachbarhauses – ein Lob auf alte Kellersysteme, die miteinander verbunden sind – in die Ecke hinter alte Tapeten und die Reste einer Spüle gestellt, die irgendwelche Mieter irgendwann dort hingestellt hatten. Es waren keine Fingerabdrücke drauf und als sie eine Handvoll Staub vom Boden darüber geworfen hatte sah es aus, wie altes Gerümpel eben aussieht.
Als der Kaffee alle war stand sie auf und öffnete weit das Fenster. Die Sonne schien durch einen leicht bewölkten blaugrauen Himmel, die Bäume waren grün, ein rotes Fahrrad lehnte am Zaun gegenüber. Nachher würde sie das Radio anmachen, sie fragte sich, was wohl berichtet werden würde. Kritiken nach einer Premiere. Weitere Aufführungen würde es nicht geben. Als sie runter ging, um eine kleinen Spaziergang zur Bäckerei zu machen und vielleicht eine Zeitung zu kaufen, nahm sie die schwarzen Klamotten zusammengerollt mit nach unten und warf sie achtlos in die Mülltonne.