Mistding – Psalm auf ein weibliches Kleidungsstück

Auf: BH in der hohen Kastanie im Innenhof hängend

Nun ist Schluß, ein für allemal! Weg mit dem Ding, mein Gott, wie lange hab ich das schleppen müssen! Früher diese riesenhaften, Möbelstücken gleichen Spitztüten, grauenhaft. Und heute nur noch mit Bügeln! Mit Bügeln!! Als wenn wir nicht froh waren, als das endlich ein Ende nahm mit dem Fischbein und den anderen Marterwerkzeugen. Gut, das war vor meiner Zeit. Aber die Einengung bleibt und das hört jetzt auf!

Die Mädels heute schämen sich vor allem, was Augen hat und tragen die Dinger sogar, wenn sie schlafen! Hab ich nie verstanden! Ich habe mich geschämt, als meine Mutter mit mir in ein Wäschegeschäft gegangen ist. Ich lief doch fast noch an ihrer Hand! Und sollte dann in einer muffigen Kabine hinter dem Tresen – dunkelbrauner Samtvorhang, verschlissen, Staub in der Luft, allgemeiner Gestank von Mottenkugeln – eine gestärkt harte Rüstung über meine zarten und knospenden Brüste ziehen. Es kratzte, es passte nicht, es hing hier und kniff da, ich fühlte mich gräßlich, häßlich, verlassen. Als ich heulte, kam die Verkäuferin in die Kabine und zuppelte an mir rum! Kam einfach zu mir rein, die ich halbnackt und in der Seele entblößt dastand! Redete dummes Zeug, zog mit geübten Griffen hier und da und dann – unvorstellbar! – zog sie mich raus vor den Spiegel! Und meine Mutter und sie sahen mich und sahen nichts. Sahen mich nicht. Nicht heulen, nicht erniedrigt, nicht verlassen von Gott und der Welt. Ha! Heute weiß ich was sie sahen. Das zarte junge Ding, das unbedingt in diese Rüstung gepreßt werden mußte, viel zu schön, viel zu viel rosige Haut, viel zu gefährlich, um frei rumzulaufen. Aber die Männer gucken doch, hieß es, und das gehört sich doch nicht, sagten sie. Sollen sie doch weggucken, mir doch egal – ihnen war es nicht egal, den alten Weibern. Natürlich nicht. Die Männer! Als wenn es um sie gegangen wäre. Es ging um sie selbst, es ging um die eigenen Falten, die schlaff werdende Haut, die welken Brüste, es ging um den Verlust der Macht über die Männer. Es ging auch irgendwie um die Gefahr, die von Männern ausgeht, doch vor allem ging es um die Gefahr der eigenen Bedeutungslosigkeit. Es ging um Leben und Tod, es ging um alles.

Und ich stand da, fühlte mich verunstaltet und irgendwie beschmutzt und es begann eine lange Karriere des Kampfes mit Mutter und BH. Später nur noch mit BH.

Doch jetzt! Jetzt kann es mir schnuppe sein – heut erst recht, wo ich selber so weit bin. Ach was, ich bin weiter! Endlich befreit von diesem Joch. Me-no-pau-se – was für ein Quatsch. Nix Pause, Schluß is! Warum ich nicht schon viel früher darauf gekommen bin, das Ding einfach in die Ecke zu pfeffern. Sollen die Männer ruhig gucken, oder wer auch immer, so kriegen alle wenigstens was zu sehen. Und es ist so egal, wem das gefällt, jetzt geht’s nur noch darum, was mir gefällt.

Was für ein Gefühl … Luft unterm Busen… Wo ist das Mistding eigentlich… wo hab ich es bloß hingeworfen? Egal. Es gehört in den Müll.