Die Dur-Terz schön entspannt… ja, jetzt steht der Akkord, wunderbar. So lassen!
Die Probe ging schnell. Nicht nur die Zeit ging schnell herum, auch das Probentempo war rasant. Und der Klang war unglaublich, selbst jetzt schon, viele Wochen vor den Konzerten.
Sie hatte sich breitschlagen lassen, nach einem halben Jahr Quengelei hatte sie spontan zugesagt: Ok, ich komme am Dienstag, hatte sie Barbara auf ihre E-Mail geantwortet, und das kommende Probenwochenende kann ich auch einrichten. Die Sopran-Kollegin fiel aus allen Wolken, machte einen Purzelbaum und versprach, dass sie auch nicht vorsingen müsse, sie hätte ja schon in dem Vorgänger-Chor gesungen, in dem,der nicht genannt werden darf. In der Tat. Da hatten sie sich kennengelernt. Das war nun zwei-drei Jahre her. Schon damals war der Chor gut gewesen. Jetzt war er noch besser. Mit wachen Augen und Ohren bestand sie die erste Hälfte der Probe bis zur Pause, lehnte sich klanglich an die Nachbarin links, dann an die rechts, befand sich für passend, konzentrierte sich und verfolgte genau, was der Chorleiter wollte und tat. Der hatte einen Plan, das war klar. Einen Klang-Plan. Er feilte an Akkorden, an Vokalfärbungen, an Aussprache. Doch er ließ sich auch ein, gab ein Tempo vor und wurde dann weich, ging mit dem Chor, zog wieder an, forderte und löste zum Schlussakkord auf. Ein schönes Miteinander. In der Pause gab es dann die unvermeidlichen Gespräche, ach, da bist Du ja wieder, was hat Dich denn hierher… wo kommst Du denn jetzt, ach, Du warst schon mal hier… wer hat Dich jetzt mitgebracht, ach… na dann… Und die Kollegen von früher erzählten, ja, es ist anders. Oh, da hast Du wirklich was verpasst. Es klang schwer, bedeutend, wie ein Bericht von vor dem Krieg. Dabei war das Durchschnittsalter deutlich unter ihrem eigenen, die meisten waren Anfang 30, also locker 15 Jahre jünger als sie. Aber sie hatten was erlebt und jeder erzählte anders davon. Denn die, die dabei gewesen waren, hatten alle ihre eigene Geschichte, ihre eigene Wahrnehmung, die eigene Wahrheit. Barbara hatte nur vage Andeutungen gemacht, was sie schon gewundert hatte. Der alte Leiter hatte den Chor fallen lassen, beleidigt und in seiner Eitelkeit schwer gekränkt. Sie hatte ihn nie gemocht. Ein guter Musiker, doch ein König in seinem kleinen Reich und ein Despot. Ein Ausdruck davon war, dass er alle duzte, doch selbst gesiezt wurde und wenn man von ihm sprach, dann nur per Nachnamen. Der Schulz. Ein Jahr hatte sie es durchgehalten und war dann zum, wie sie fand, richtigen Zeitpunkt gegangen.
Und jetzt dieser Mann da vorne, Georg. Nett und kompetent, den Chor fordernd und fördernd, zugänglich und freundlich und sehr bei der Sache. Und er ließ Freiräume. Die Schlusskonsonanten, die Einsätze zwischendrin, er baute auf die musikalische Kompetenz im Chor, nutzte sie und freute sich daran und konzentrierte sich auf die Punkte, die ihm ausbaufähig erschienen. Er traute dem Chor viel zu. Und sie war froh, dass sie gut mitkam und ahnte, wieviel sie hier über das Singen lernen würde. Singen… Singen war eines der Dinge, die keiner weiteren Erklärung bedurften. Singen war aus sich heraus gut und sinnvoll. Es gab nur wenig Tätigkeiten, die sie als von sich heraus für gut und sinnvoll befand. Gartenarbeit. Schreiben. Lieben, doch nach dem letzten schmerzhaften Winter kam ein Gedanke daran nicht infrage. Singen war auch eine dieser Tätigkeiten. Und auch keine ungefährliche. Beim Singen bleibt die Zeit stehen oder sie verfliegt wie im Traum. Die Klänge schaffen den Raum, bringen Ordnung und Struktur, erzählen eine Geschichte, öffnen Emotionen. Und sobald das Musikstück vorbei ist, ist alles Vergangenheit. Musik lässt sich nicht festhalten. Sie schwebt und vibriert und nimmt einen mit und gefangen und klingt höchstens noch im Kopf nach oder im Herzen. Manchmal tagelang als Ohrwurm, manchmal nur als müdes Echo.
Was noch besser ist als der Klang im Kopf, ist das Gefühl, gemeinsam im Chor diesen Klang zu erzeugen, sich selbst nicht mehr zu hören und als Individuum notwendiger Teil von etwas Größerem zu sein. Anteil zu haben an etwas, das man sich allein nicht mal vorstellen kann, das so unbeschreiblich wie wunderbar ist undschon dadurch keine weitere Begründung braucht. Und hier in diesem Chor ahnte sie, dass so etwas gehen konnte. Gemeinsam im Klang und doch als Person und Stimme gebraucht und ernst genommen für die Schaffung dieses Klanges, das hatte sie sich schon lange gewünscht. Hier konnte es vielleicht gelingen.
Doch vorher musste sie durch diese Chor-Geschichte durch, die sie verpasst hatte und bislang nur in Bruchstücken kannte. In der Pause fragte sie Paul. Ein freundlicher Mann, irgendwie schlicht und unmittelbar, sehr bei sich und sie freute sich, ihn wiederzutreffen. Achja, sagte er, das war was. Die haben dem Georg echt das Leben schwer gemacht. Wie, schwer gemacht, wer hat da was gemacht, fragte sie. Ach, die Jungs im Tenor vor allem, die so an Schulz gehangen hatten und zwei Mädels aus dem Alt. Die kamen mit dem Georg nicht klar. Sie erinnerte sich dunkel an die Typen. Als sie sie kennengelernt hatte, waren dievor allem jung, ehrgeizig und uninteressant. Nach einigen Schleifen von Paul schälte sich die Geschichte raus. Mobbing am Chorleiter, nachäffen, schlecht reden, alle und jeden mit einem bösen Spitznamen belegen, pöbeln, die Auswahl der Stücke in Grund und Boden reden, Proben stören, Einsingen nicht mitmachen, das ganze Programm. Alles, was sie in der Probe grade gut fand und genossen hatte, die Freiheit selbst zählen zu dürfen, die Klangentfaltung, die Abschläge, das Miteinander, all das hatten die mies gemacht. Jede Woche wieder über fast ein Jahr lang. Keiner hat verstanden, warum sie nicht einfach gegangen sind, doch anstatt zu gehen, haben sie gepöbelt. Sie fanden, das sei ihr Chor und sie bestärkten sich gegenseitig in immer mieseren Auftritten aus der letzten Reihe. Gefielen sich in der Rolle der Stänkerer, genossen ihre Macht, fanden sich im Recht, fühlten sich von der Gruppe getragen, die dazu hauptsächlich schwieg. Bis Georg nicht mehr konnte. Buchstäblich zusammenbrach. Wochenlang ausfiel. Und als er überaschenderweise doch noch einmal wiederkam, stellte er die alles entscheidende Frage. Wer geht mit mir mit? Die Clique fühlte sich sicher, spielte sich noch ein bisschen auf und dann schlug Christian aus dem Bass vor, das könnte man doch jetzt und hier direkt szenisch lösen. Ein Hammelsprung. Wer mit Georg gehen will, steht auf und geht Richtung Tür. Und wer nicht, bleibt einfach sitzen. Ok? Ok.
Betretenes Sich-Anschauen. Georg steht auf, geht zur Tür. Zwei-drei stehen sofort auf und gehen mit, ohne sich umzudrehen. Stühlerücken und scharrende Füße, Bewegung und schweigender Aufbruch. Und als die Füße still werden, steht die große Gruppe an der Tür und es sitzen noch fünf Menschen auf ihren Stühlen. Mit entgeisterten Blicken.
Sie bekam eine Gänsehaut, als Paul an dieser Stelle war. Wie, alle sind aufgestanden und mitgegangen? Ja, bis auf die Störenfriede und Freddy. Wie, Freddy auch? Und dann? Naja, und dann sind wir in einen Nebenraum gegangen, der viel zu klein war, haben uns alle da rein gequetscht und die Leute vom Vorstand haben gesagt, allen voran Barbara, dass wir jetzt direkt einen neuen Verein gründen müssen und einen neuen Namen brauchen. Und das haben wir dann gemacht. Wie, das habt Ihr dann gemacht, fragte sie verblüfft. Ja, das haben sie dann gemacht. Der Name war erstaunlich schnell gefunden und tatsächlich als Name noch frei nutzbar, das haben sie sofort im Internet gecheckt. Der Verein wurde direkt gegründet und am nächsten Tag an den ordnungsgemäßen Stellen angemeldet. Und die anderen, die fünf? Ach, die fünf, ja, sagte Paul, die haben grade einen neuen Chorleiter gefunden und formieren sich neu unter dem alten Namen. Und die Kontakte sind abgebrochen und Freundschaften zerbrochen und naja, mit Freddy, der ist einfach mitgelaufen, der hat ja familiäre Bande mit … oh, ich glaube, die Pause ist um. Und wie geht’s Dir damit? fragte sie noch im sich wieder einfädeln zwischen die Stuhlreihen. Naja, sagte Paul, ist halt doof, besonders wegen Freddy, aber … is halt so.
Was für eine Geschichte, dachte sie, als sie sich wieder zu ihrem Platz schlängelte. Wieso hatte Barbara das nie erzählt? Sie schaute sich um und irgendwie sahen die Leute plötzlich anders aus. Vor allem Georg. Die hatten ganz schön was durchgemacht. Eine Revolution. Ein Schisma. Interessanter Chor.
Als die Probe vorbei war, sie sich verabschiedet hatte und auf dem Fahrrad saß, fiel ihr noch etwas auf: interessant, sängerisch toll und in anderer Hinsicht völlig ungefährlich. Die Herren nett und deutlich jüngerals sie, der Chorleiter nicht ihr Typ. Kein schmerzhafter Stress in Sicht, keine Gefahr. Hier würde sie sich erstmal musikalisch niederlassen. Und bei der nächsten Probe würde sie auf ein Bier dableiben und jemand anderen nach derselben Geschichte fragen.