Fahrrad

Auf dem Feldweg in Elbickerode mit den Steinen und Pfützen und ohne wirkliche Hilfe, denn meine Eltern haben weiter ihre Gartenarbeit gemacht, kamen nur kurz mal rüber, haben mich kurz festgehalten auf dem Rad, dann angeschoben, sind aber bald wieder gegangen, da habe ich es nicht gelernt.
Vielleicht habe ich eine erste kurze Wahrnehmung davon gehabt, wie es sein kann, so ohne Stützen in Balance zu bleiben. Doch das Rad war zu groß, ich zu alleine, und ich hatte nicht den Ehrgeiz, es meinen Eltern zu zeigen. Kein Spaß, kein Erfolg. Dazu noch die Geschichte meines Vaters, die er von seinem Radfahrenlernen erzählte und die mich so gar nicht ermuntert hat. Eigentlich habe ich es erst in Dannenberg gelernt, vielleicht war das sogar im selben Jahr. Mit den Cousins und Cousinen, die es alle schon konnten. Und den großen, vor allem Erwin, der es mir nochmal gezeigt und erklärt hat. „Du musst gar nichts machen, einfach nur treten und dich trauen“, hat er gesagt und mich angeschoben. „Und lenken!“ hat er hinter mir her gelacht, als ich in Schlangenlinien wegfuhr und es wahnsinnig aufregend fand. Ich fuhr! Tatsächlich! Selber, ohne Hilfe und ohne Seitenräder hielt ich die Balance! Der Fahrtwind rauschte mir in den Ohren und wehte durch die Haare und ich fuhr die ganze Theodor-Körner-Straße entlang bis zum Ende, das waren bestimmt fast 100 Meter. Und ich hatte überhaupt keine Lust, anzuhalten, ich fuhr doch gerade erst! Also bog ich gewagt rechts ab in die Franz-Lübeck-Straße und nach höchstens 30 Metern gleich wieder rechts in die Von-Tettau-Straße. Der Plan war klar, ich wollte im Kreis fahren! Einfach so auf eigene Faust. Und es ging! Am Ende der Von-Tettau war die Kantor-Schultz-Straße, ich bog wieder rechts ab und da war auch schon die Theodor-Körner-Straße wieder. Und da stand Erwin, hatte auf mich gewartet, wollte mich abfangen. Doch ich fuhr einen Bogen um ihn herum und rief „Ich mache noch ne Runde!“ Er rief irgendwas von „Bremsen“ und „rückwärts treten“ und der Rest ging unter in Fahrtwind und Rauschen in den Ohren. Ich war nicht waghalsig, ich war sieben Jahre alt. Es war wie fliegen! Nur, dass ich den Boden unter den Rädern spüren konnte. Die Betonplatten mit den Teerkanten, bubbupp-bubbupp, schneller oder langsamer, je nachdem wie schnell ich fuhr. Hier wieder das Loch mit dem Gully, da wollte ich nicht reinfahren, dort die Delle mit dem Riß im Beton, da die Kurve, da die nächste Kurve. Oh, ein Auto! Ganz vorschriftsmäßig fuhr ich rechts am Rand, das wußte ich, das Auto fuhr vorbei, alles gut gegangen. So ging das also. Ich war vollkommen begeistert. Fuhr Runde um Runde, variierte im Tempo, fuhr absichtliche Schlangenlinien, fuhr ganz langsam und dann auch einmal ganz schnell, so schnell, wie ich mich getraut habe. Das habe ich aber in der Von-Tettau-Straße gemacht, damit mich keiner dabei sieht. Und dann war ich wieder rum und am Ausgangspunkt. Wie war das noch mit dem Bremsen? Keine Ahnung… wo war Erwin? Ah, da ganz hinten, ich habe gewinkt. Auch das ging. Den Lenker mit einer Hand loslassen und der anderen vertrauen, dass die es schon richtig machen wird. Erwin kam, und bei der nächsten Runde stand er da wieder und ich fragte ihn im Vorbeifahren… Bremsen? … er rief und gestikulierte und ich verstand, das Abendessen sei auch soweit, und in der nächsten Runde würde er mich einfangen, ich solle nur ganz langsam… OK, das kriege ich hin, dachte ich. Ich fuhr also bei der nächsten Begegnung ganz langsam auf ihn zu und er kriegte mich zu fassen und hielt mich an. „Rückwärts treten, hab ich doch gesagt!“ sagte er, doch ich verstand das nicht. Wie sollte ich denn rückwärts treten? Ich probierte es am stehenden Fahrrad, während er das Rad am Lenker festhielt. Ach so! Erwin erklärte noch, dass ich mir hier und jetzt aussuchen soll, welcher Fuß hinten die Rücktrittbremse macht und mit welchem Fuß ich absteigen will. Öh, keine Ahnung… vielleicht einfach, wie eben gemacht? Rechts geht nach hinten, Links nach unten. Wir übten das kurz, doch meine Konzentration war aufgebraucht. „Gut“, sagte er „dann musst du morgen weiter üben, jetzt gibt es sowieso Abendbrot.“ Wir gingen also rein und ich war unglaublich stolz. Jetzt konnte ich endlich Fahrradfahren. Und das Bremsen, das würde ich morgen auch noch lernen. 

Die Geschichte meines Vaters war übrigens wirklich eine schlimme. Er hatte eben erst Radfahren gelernt, war vielleicht 13 oder 14, konnte mit Mühe die Spur halten, schlingerte auf einem Mecklenburger Ackerweg herum, um Steine und Pfützen und durch Sand. Und da kam ein Nachbar von vorne, grüßte mit „Heil Hitler!“ und er grüßte zurück, konnte aber den Hitlergruß nicht machen, denn er bekam die rechte Hand einfach nicht vom Lenker. Der Nachbar ging zu seinem Vater, beschwerte sich, und der gab seinem Sohn eine kräftige Ohrfeige, denn so ging das nicht, man hatte ordentlich zu grüßen. Eine üble Zeit.
Und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit stieg mein Vater um auf Moped, Motorrad, Auto. Reiten konnte er auch gut, aber das ist eine andere Geschichte.